Sunday, 12 February 2012

Innere Reinigung durch Psychose. Mystik.

"(...) Yogis oder Schamanen bereiten sich jahrelang im Rahmen einer überlieferten Tradition auf die 'Fallgruben' des übernormalen Bereichs vor, und ein Lehrer weist sie vorsichtig in den Erkenntnisweg ein. Unser Psychiatriesystem dagegen, das alle transpersonalen Erfahrungen 'hilfsbereit' als negativ und krank bewertet, gibt dem Psychotiker keine Landkarte innerer Bewusstseinsregionen an die Hand, so dass die atemberaubenden Halluzinationen ihn förmlich verschlingen. Die schützende Eischale des 'dreidimensionalen' Bewusstseins bricht beim Psychotiker unvorbereitet auf. Je tiefer wir in die Psyche eindringen, mein C. G. Jung, desto mehr schwindet die individuelle Einmaligkeit und mit der Angst der Entpersonalisierung im Nacken verliert sich der Psychiatriepatient im Labyrinth transpersonaler Egoauflösung. Die erhöhte Wahrnehmungsintensität im prä-psychotischen Zustand, die ungefilterte Reizaufnahme, mit der er bald nicht mehr Schritt hält, erscheint anfänglich oft als kreative Handlung; die Deautomatsation des gewöhnlichen Bewusstseins wirkt zunächst lustvoll; die Welt scheint einen Sinn in sich zu tragen und die partielle ekstatische Einheit mit der Umgebungist ebensowenig ungewohnt wie bei echter mystischer Inspiration. Der Zustand ähnelt dem eines Meditierenden: Der Informationsstrom ist nicht mehr maßgeblich durch die Automatik soziokultureller und psychischer Filtersysteme reguliert, das Jenseits der Sinne enthüllt eine Welt, deren Zusammenhang nicht den Gesetzen von Ursache und Wirkung folgt, ein Spektrum das vom Dämon bis zur universellen Leere alles gebiert. W. C. Alvarez in seinem Buch 'Minds that came back' und Bert Kaplan in 'The Inner World of Mental Illness' demonstrieren an Hand zahlreicher biographischer Berichte die regenerative, transformative und gesundheitsfördernde Erfahrung in der Psychose. Die Ent-Automatisierung zwanghafter Egostrukturen und neurotischer Beschränkungen gleicht einer inneren Reinigung, die verjüngt und uns wie einen Phönix aus der Asche unseres alten Ichs aufsteigen lässt. Wir benötigen gelegentlich Pausen, Erholungen von unserem alltäglichen Selbst, einen Austauch psychischer Garnituren und Reisen in alternative Bewusstseinsräume. Ungewöhnliche Erfahrungen entschlacken die in langen Jahren rigide gewordene Psyche und fördern körperliche und geistige Lebendigkeit; unsere Sinne - erfrischt und ausgeruht - geniessen das Leben in tieferen Zügen. Die psychische Neugeburt nach einer transperonalen Erfahrung bereichert uns mit neuer Ehrfurcht, Vitalität und Begeisterung, wie sie wohl nur Kindern zueigen ist. Nach Maslows Forschungen leben auch Genies, kreative und künstlerische Menschen intensiver, auf einem höheren Niveau der Auseinandersetzung, sie transzendieren das Alltagsbewusstsein leichter und öfter. Viele Berichte 'zurückgekehrter' Psychotiker lesen sich wie jene von Mystikern, Heiligen, Schamanen und Yogis; sie enthüllen das Schöpferische von Nicht-Ego-Zuständen, die eine erweiterte Identität, eine plastischere Wirklichkeit in uns wachrufen. In der Tat: 'Die Zukunft der Verrücktheit ist ihr Ende: ihre Verwandlung in universelle Kreativität, und dies ist auch ihr verlorener Ursprungsort.'"

(aus: Grenzerfahrungen / [Red.: Heiko Ernst (verantwortl.)...]. - 2. Aufl. - Weinheim ; Basel: Beltz, 1985. (Psychologie heute: Sonderband) S. 46 f.)

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