"(...) Yogis oder Schamanen bereiten sich
jahrelang im Rahmen einer überlieferten Tradition auf die 'Fallgruben'
des übernormalen Bereichs vor, und ein Lehrer weist sie vorsichtig in
den Erkenntnisweg ein. Unser Psychiatriesystem dagegen, das alle
transpersonalen Erfahrungen 'hilfsbereit' als negativ und krank
bewertet, gibt dem Psychotiker keine Landkarte innerer
Bewusstseinsregionen an die Hand, so dass die atemberaubenden Halluzinationen ihn förmlich verschlingen. Die schützende Eischale des 'dreidimensionalen' Bewusstseins bricht beim Psychotiker unvorbereitet auf.
Je tiefer wir in die Psyche eindringen, mein C. G. Jung, desto mehr
schwindet die individuelle Einmaligkeit und mit der Angst der
Entpersonalisierung im Nacken verliert sich der Psychiatriepatient im
Labyrinth transpersonaler Egoauflösung. Die erhöhte
Wahrnehmungsintensität im prä-psychotischen Zustand, die ungefilterte
Reizaufnahme, mit der er bald nicht mehr Schritt hält, erscheint
anfänglich oft als kreative Handlung; die Deautomatsation des
gewöhnlichen Bewusstseins wirkt zunächst lustvoll; die Welt scheint
einen Sinn in sich zu tragen und die partielle ekstatische Einheit mit
der Umgebungist ebensowenig ungewohnt wie bei echter mystischer
Inspiration. Der Zustand ähnelt dem eines Meditierenden:
Der Informationsstrom ist nicht mehr maßgeblich durch die Automatik
soziokultureller und psychischer Filtersysteme reguliert, das Jenseits
der Sinne enthüllt eine Welt, deren Zusammenhang nicht den Gesetzen von
Ursache und Wirkung folgt, ein Spektrum das vom Dämon bis zur
universellen Leere alles gebiert. W. C. Alvarez in seinem Buch 'Minds
that came back' und Bert Kaplan in 'The Inner World of Mental Illness'
demonstrieren an Hand zahlreicher biographischer Berichte die
regenerative, transformative und gesundheitsfördernde Erfahrung in der Psychose. Die Ent-Automatisierung zwanghafter Egostrukturen und neurotischer Beschränkungen gleicht einer inneren Reinigung, die verjüngt und uns wie einen Phönix aus der Asche unseres alten Ichs aufsteigen lässt.
Wir benötigen gelegentlich Pausen, Erholungen von unserem alltäglichen
Selbst, einen Austauch psychischer Garnituren und Reisen in alternative
Bewusstseinsräume. Ungewöhnliche Erfahrungen entschlacken die in langen
Jahren rigide gewordene Psyche und fördern körperliche und geistige
Lebendigkeit; unsere Sinne - erfrischt und ausgeruht - geniessen das
Leben in tieferen Zügen. Die psychische Neugeburt nach einer
transperonalen Erfahrung bereichert uns mit neuer Ehrfurcht, Vitalität
und Begeisterung, wie sie wohl nur Kindern zueigen ist. Nach Maslows Forschungen leben auch Genies, kreative und künstlerische Menschen intensiver, auf einem höheren Niveau
der Auseinandersetzung, sie transzendieren das Alltagsbewusstsein
leichter und öfter. Viele Berichte 'zurückgekehrter' Psychotiker lesen
sich wie jene von Mystikern, Heiligen, Schamanen und Yogis; sie enthüllen das Schöpferische von Nicht-Ego-Zuständen,
die eine erweiterte Identität, eine plastischere Wirklichkeit in uns
wachrufen. In der Tat: 'Die Zukunft der Verrücktheit ist ihr Ende: ihre
Verwandlung in universelle Kreativität, und dies ist auch ihr verlorener
Ursprungsort.'"
(aus: Grenzerfahrungen / [Red.: Heiko Ernst (verantwortl.)...]. - 2. Aufl. - Weinheim ; Basel: Beltz, 1985. (Psychologie heute: Sonderband) S. 46 f.)
(aus: Grenzerfahrungen / [Red.: Heiko Ernst (verantwortl.)...]. - 2. Aufl. - Weinheim ; Basel: Beltz, 1985. (Psychologie heute: Sonderband) S. 46 f.)
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