Wednesday 13 April 2016

Lukas Friedrich Geiger - Der versteinerte Mann im Fels

Liebe Mutter, lieber Vater, liebste Geschwister.

Nicht dass es mir besonders schlecht gehen würde. Nicht dass ich so nicht weiterleben könnte. Zehn, zwanzig oder mehr Jahre. Aber es ist einfach so ermüdend dieses Leben ohne Liebe zu spüren; ohne Liebe aussenden zu können. Gewiss wirst du Mutter, die immer einen gehörigen Grundoptimismus durch das Leben trägt, nun einwenden, dass diese Fähigkeit doch in mir liege und nur verschüttet sei. Und recht muss ich dir geben so ist es sicherlich … doch wenn die Liebe verschüttet ist, so ist doch sicherlich das eigene Innerste, das Selbst verschüttet. Was nützt mir das Wissen verschüttet zu sein. Denn dieses Wissen begründet die Last, den Schmerz der schweren Steine auf mir, um im Bild zu bleiben. Doch mich befreien, das vermag ich nicht. Und so scheine ich ein neuer Prometheus. Doch kein Adler ist es, der mich quält, kein lebendes Getier, sondern toter Stein. Der gerade so schwer drückt, dass ich nicht aufzustehen vermag, zugleich aber keinen Tod über mich bringt. Vater. Ich höre wie dein Verstand mir sagt: Aber Junge, das sind doch nur Steine in deinem Kopf. Und auch du hast recht, Vater. Gewiss sind es keine echten Steine, sondern nur Gedanken. Doch wie soll ich mich befreien. Ist das Unsichtbare nicht viel weniger leicht zu besiegen? Ich liege nun begraben unter Steinen am Rande meines Weges. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. So liege ich da und einige kommen vorbei. Zuerst ein Psychologe. Als dieser erkennt, dass ich kein Geld hab geht er weiter. Dann ein Theologe. Als dieser erkennt, dass ich keinen Glauben mehr habe, geht er schnell weiter. Dann kommt ein kleines Kind vorbei. Es bleibt stehen und versucht die Steine weg zu rollen. Es strengt sich so sehr an, bis es schließlich nicht mehr kann. Es erkennt, dass es die Steine nicht weg zu rollen vermag und muss weinen. Nicht schlimm mein Kind, nicht schlimm. Wenn ich groß bin und stark, werde ich dich hier rausholen. Ich verspreche es dir! So meint das Kind und geht seinen Weg mit hängendem Kopf. Doch leider wurde das Kind später Psychologe. Früher hab ich gestöhnt. Heute stöhne ich nicht mehr. So weiß auch niemand mehr, dass unter den Steinen ein Mensch liegt. Und dieser Haufen wurde zu einer Art Pilgerstätte. Reisende lassen sich nieder, setzen sich bei mir zusammen, machen Feuer, halten Wache, singen Lieder. Mir ist kalt, ich friere und zittere, doch kann nicht aufstehen und ans warme Feuer gehen. Ein Steinwurf entfernt, für mich zu weit. Manchmal, wenn mich trotz meiner Schmerzen eine scherzhafte Stimmung befällt, so spreche ich zu den Reisenden, die meinen die Natur oder Gott spräche zu ihnen. Vater und Mutter ihr seht: Nicht, dass ich nicht weiterleben könnte. Zehn zwanzig oder mehr Jahre. Aber es ist einfach so ermüdend dieses Leben ohne Liebe zu spüren und Liebe auszusenden. So begann ich, der heilige Steinhaufen der sprechen kann, den Wanderern eine Geschichte zu erzählen. Dass ich gewachsen sei aus Steinen die Wanderer hier ließen, um Gott damit zu ehren. Und ich bat die Wanderer weiter zu machen mit diesem Brauch. Und sie taten es. Wanderer für Wanderer wuchs so der verwinkelte, doch nie wackelnde Berg aus Wandersteinen. Bis schließlich ein letzter Stein mir das Leben nahm. Ich wurde gesteinigt. Wer ohne Sünde ist, lege den letzten Stein. Ein Mann legte den Stein der meinen Brustkorb zu viel werden ließ, sodass sich meine Eingeweide mit Steinen füllten und mein Hunger gestillt wurde, nachdem ich solange nichts mehr zu essen bekommen hatte. Es war das Kind von damals, das mich schließlich erlöste. Das Kind das Psychologe geworden war.

Text von Lukas Friedrich Geiger

Foto von Cane Harry
Foto von Cane Harry

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